Grundlagen von Akupunktur und verwandten Verfahren
Die 12 Sonderleitbahnen
das System der 6 Vereinigungen oder der 6 Sonderleitbahnpaare
Der Hinweis im Leitfaden Chinesische Medizin (Focks/Hillenbrand, 2006) gibt einen ersten Fingerzeig auf die Existenz der 12 Sonderleitbahnen (Synonym: Sondermeridiane, divergierende Meridiane) als Bestandteil des Jing Luo, des Leitbahnnetzes, lässt aber viele Fragen offen.
Ausführlicheres findet man bei van Nghi (1977), der sich auf das Ling Shu, (Kap. 11) bezieht, der wohl ältesten Quelle zu den 12 Sonderleitbahnen. Kampik (1988), Richter/ Becke (1995) und Stux (1999) greifen die Thematik ebenfalls auf, allerdings in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit. Einig ist man sich aber in der Bedeutung der Sonderleitbahnen im Bezug auf die Therapie psychosomatischer Krankheitsursachen und Störungen.
Die 12 Sonderleitbahnen gehören zu den 12 Jingmai (Hauptleitbahnen) und unterstützen diese in deren Funktion. Sie besitzen allerdings keine Innen-Außen-Beziehung wie die 6 Yin- und 6 Yang-Hauptleitbahnen, stellen dagegen ein eigenes System der 6 Vereinigungen dar. Sie besitzen keine eigenen Punkte, sondern nutzen ausschließlich Punkte der Hauptleitbahnen.
Die wichtigste Aufgabe besteht wohl darin, den Kopf mit Yin-QI (Yin-Energie, Yin-Information) zu versorgen. Im Bereich des Kopfes befinden sich ausschließlich Yang-Hauptleitbahnen, eine Yang-Lastigkeit wäre die Folge bei fehlendem Yin-Aspekt. Damit haben die Hauptleitbahnen nicht nur ein direktes Verbindungssystem zum Biao mit Extremitäten und Rumpf, und zum Li mit Speicher- und Hohlorganen, sondern auch zu anderen Regionen des Organismus wie dem Kopf mit Gesicht- und Hirn- Schädel.
Die 12 Sonderleitbahnen zweigen von den 12 Hauptleitbahnen ab und tragen deren Namen. Jeweils zwei Hauptleitbahnen bilden ein Leitbahnpaar, somit bilden auch die von ihnen abzweigenden Sonderleitbahnen sechs entsprechende Sonderleitbahnpaare (s. Tab.1).
Tab.1: Nomenklatur der Sonderleitbahnpaare
Shou Tai Yin Shou Yang Ming |
Hand-Tai Yin Hand-Yang Ming |
Lunge-Leitbahn Dickdarm-Leitbahn |
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Zu Yang Ming Zu Tai Yin |
Fuß-Yang Ming Fuß-Tai Yin |
Magen-Leitbahn Milz-Leitbahn |
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Shou Shao Yin Shou Tai Yang |
Hand-Shao Yin Hand-Tai Yang |
Herz-Leitbahn Dünndarm-Leitbahn |
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Zu Tai Yang Zu Shao Yin |
Fuß-Tai Yang Fuß-Shao Yin |
Blase-Leitbahn Niere-Leitbahn |
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Shou Jue Yin Shou Shao Yang |
Hand-Jue Yin Hand-Shao Yang |
Pericard-Leitbahn 3Erwärmer-Leitbahn |
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Zu Shao Yang Zu Jue Yin |
Fuß-Shao Yang Fuß-Jue Yin |
Gallenblase-Leitbahn Leber-Leitbahn |
Die Sonderleitbahnen zweigen an den Xi-Punkten (Xi-Grenzpunkten) der Extremitäten von den jeweils gekoppelten Hauptleitbahnen ab, treffen sich am unteren Vereinigungspunkt (UVP), ziehen dann jeweils durch das gleichnamige Zang- und Fu-Organ, dann ausnahmslos durch den Herzbereich nach kranial zum oberen Vereinigungspunkt (OVP). Die oberen Vereinigungspunkte liegen alle auf der jeweiligen Yang-Hauptleitbahn des entsprechenden Leitbahnpaares. Die Abb.1 stellt den schematischen Verlauf eines Sonderleitbahnpaares vom Abzweig aus dem Xi-Grenzpunkt bis zum oberen Vereinigungspunkt dar. Die einzelnen Sonderleitbahnpaare mit ihren zugehörigen unteren und oberen Vereinigungspunkten zeigt die Abb.2.
Abb.1: Verlauf eines Sonderleitbahnpaares
Abb.2: Die unteren und oberen Vereinigungspunkte der Sonderleitbahnpaare
Tab.2: Sonderleitbahnpaare und psychische pathogene Faktoren
1. |
Umlauf |
||
1. Lunge – Dickdarm | Unbewältigte Traurigkeit, Trauer | ||
2. Milz – Magen | Sorge, Grübeln | ||
2. | Umlauf | ||
1. Herz – Dünndarm | Maßlosigkeit in der Freude | ||
2. Niere – Blase | Angst, Furcht, innere Kälte | ||
3. | Umlauf | ||
1. Pericard – 3Erwärmer | Hektik, Manie | ||
2. Leber – Gallenblase | Ärger, Wut, Zorn |
In der Praxis hat sich als Therapiestrategie bewährt, die Punkte in der Reihe nach an den Extremitäten von distal nach proximal und am Rumpf von kaudal nach kranial zu stechen. Man beginnt mit den jeweiligen Ting-Punkten des Leitbahnpaares in der Reihenfolge des Umlaufs. Dann folgen die Tonisierungspunkte und die Xi-Punkte, zusätzlich der Xi-Punkt des Herzens mit He 6 (Yinxi). Damit hat man bei länger bestehenden Störungen die sicher vorhandenen Stasen von Qi und Blut-Xue beseitigt, in den Leitbahnen wieder für den Informationsfluss gesorgt, tonisiert, und die Sonderleitbahnpaare aktiviert. Letztlich auch das Herz als Sitz der geistigen Aktivitäten berücksichtigt.
Im nächsten Schritt setzt man die Nadel in den unteren Vereinigungspunkt, danach in den oberen Vereinigungspunkt der Sonderleitbahnen, der immer auf der Yang-Hauptleitbahn zu finden ist. Als letzter Schritt und zur Vervollständigung der psychosomatischen Therapie der Funktionskreisstörungen werden der Punkt Ma 36 (Zusanli) ergänzend gestochen, obwohl er nicht zum eigentlichen System der 6 Vereinigungen oder 6 Sonderleitbahnpaare gehört. Das therapeutische Vorgehen zeigt die Tab. 3.
Tab.3: Therapiestrategie psychosomatischer Störungen
- Ting-Punkte der Hauptleitbahnen
- Tonisierungspunkte dieser Hauptleitbahnen
- Xi-Punkte derselben Hauptleitbahnen
- Xi-Punkt der Herzleitbahn He 6 Yinxi
- Unterer Vereinigungspunkt der Sonderleitbahnen
- Oberer Vereinigungspunkt der Sonderleitbahnen
- Evtl. Ergänzung durch Ma 36 Zusanli
Psychosomatische Störungen beeinflussen den ganzen Funktionskreis, so dass die Nadeln jeweils auf beiden Seiten gestochen werden müssen. Ein einseitiger Einsatz der Xi-Punkte ist nur bei der Therapie äußerer pathogener Faktoren sinnvoll. Die Therapiestrategie stellt die Abb.3 dar, wobei die Reihenfolge der Nadeln praktikabel variiert wurde.
Abb.3: Therapieschema der 6 Sonderleitbahnpaare
Innere pathogene Faktoren führen im Laufe der Zeit zu einer Yin-Leere-Symptomatik, die entsprechend tonisierend zu behandeln ist. Dagegen verursachen äußere pathogene Faktoren eine hartnäckige Fülle-Symptomatik im Kopfbereich (Yang-Fülle). Hier werden sedierende Nadeltechniken bevorzugt. Insgesamt eine großartige Therapieoption, leider in den curricularen Ausbildungsrichtlinien der (M)WBO, Kursbuch Akupunktur, nicht enthalten. Nichts desto weniger lehrbar, lernbar, reproduzierbar, auf jeden Fall in den Kursen der DGfAN.
Getreu unserem Motto: Wir machen Sie fit für die Praxis der Zukunft!
Dr. med. Reinhart Wagner
Facharzt für Allgemeinmedizin
Facharzt für Sportmedizin
Akupunktur, Chirotherapie, NHV
Kuhbacher Hauptstr. 71
77933 Lahr
r.wagner@dgfan.de
Literatur beim Verfasser